Volunteering mit Haftinsassen in Nicaragua

Umgebung in Nicaragua

„Generell fühle ich mich hier sicher. Zu meinen Erstgesprächen habe ich vorsichtshalber immer Pfefferspray in der Tasche!“ Teresa (26), klinische Psychologin aus Deutschland, ist nach ihrem abgeschlossenen Studium für zwei Monate als Freiwillige im Projekt “El Chante – La Casona” tätig. Sie geht hier voll und ganz in ihrer Arbeit mit Haftinsassen auf. Nun, gegen Ende ihres Freiwilligeneinsatzes ist sie sich sicher, dass sie noch einmal nach Nicaragua zurückkehren möchte.

 

Ein Schauspiel von Macht & Rivalität

Es ist 10 Uhr morgens und bereits unglaublich heiß, als eine Gruppe von rund 15 jungen Erwachsenen, fast alle männlich, den großen Platz vor der Kathedrale in León betritt. Alle in dunklen Hosen, die Oberkörper frei. Schnell sammelt sich eine Menschenmasse um die Gruppe, die das Schauspiel beobachten will. Eine Art Ausdruckstanz, in dem es um Macht, Rivalität und Unterdrückung geht. Es ist beeindruckend, was eine Gruppe hier auf die Beine gestellt hat. Wie unglaublich talentiert alle sind und es scheint als wären sie mit voller Motivation bei der Sache. Dass es sich um Haftinsassen handelt, ist kaum zu glauben. Lediglich die Polizisten, von denen die Gruppe begleitet wird, lassen darauf schließen.

Ganz normal für Nicaragua

Das Theater-Projekt ist Teil des Projektes “El Chante La Casona”: Die Truppe tritt regelmäßig an verschiedenen Orten in Nicaragua auf. Das erste Mal begegne ich Teresa kurz vor der Aufführung. Alles ist ein wenig chaotisch, weil gerade der Hauptdarsteller es nicht rechtzeitig aus dem Gefängnis bis hierher geschafft hat und alle jetzt warten müssen. Für Nicaragua erscheint es dann doch wieder ganz normal. Ein Polizist hat sich nun auf den Weg gemacht und sie steht nun alleine da, mit einer Gruppe von Haftinsassen als Darsteller. Aber von Anfang an erscheint mir Teresa als eine sehr selbstbewusste Person, die durch ihre Vorerfahrung mit so einer Situation gut zurechtkommt.

Ein Ort zur Wiedereingliederung

El Chante – La Casona ist ein Ort für Haftinsassen, die aufgrund von guter Führung an den verschiedenen Projekten teilnehmen dürfen. Der Hauptfokus liegt auf Präventionsprojekten und Reintegration. In Nachmittagskursen werden den Haftinsassen neue Fertigkeiten vermittelt, wie zum Beispiel die Reparatur von Motorrädern oder Telefonen. Das soll nach dem Gefängnisaufenthalt die berufliche Integration verbessern.

Viele verschiedene Projektinhalte

Neben dem Theaterprojekt gibt es noch viele andere Tätigkeitsbereiche auf dem weiten Gelände. Regelmäßig finden Fußballturniere statt für Kinder und Jugendliche aus der Gegend. Hinter dem großen Hauptgebäude liegt ein großes Gartenhaus, in dem verschiedene Pflanzen angebaut worden sind und gepflegt werden. Hier gibt es immer etwas zu tun. Auch das morgendliche Aufräumen und Bewässern steht täglich an. „Am Anfang dachte ich, dass es völlige Wasserverschwendung ist. Aber ja, das Bewässern des staubigen Bodens macht hier durchaus Sinn.“ Neben den Haftinsassen, wird auch mit Familien aus den umliegenden Vierteln gearbeitet. Viele Mütter suchen immer wieder das Gespräch, wenn Probleme im Umgang mit ihren Kindern auftreten. Im Hauptgebäude entsteht gerade eine Bibliothek zum Austausch von Büchern. Weitere Räume bieten Platz für Workshops und Handarbeitskurse. Ein kleinerer Raum dahinter ist Teresas Reich – das Zimmer der Psychologin.

Gruppentherapien & Einzelgespräche

Teresa möchte gerne eine Ausbildung als psychologische Psychotherapeutin beginnen. Den Freiraum zwischen Studium und Ausbildung wollte sie noch einmal nutzen, um etwas Nützliches in ihrem Arbeitsfeld zu machen. So hat es sie nach Nicaragua in das Projekt El Chante – La Casona gezogen. Von Anfang an wurde Teresa ein wenig ins kalte Wasser geworfen. „Gleich am zweiten Tag sollte ich eine Gruppentherapie durchführen, ohne darauf vorbereitet zu sein.“ Durch ihren abgeschlossenen Master in Psychologie wurde ihr direkt viel Verantwortung zugetragen und sie ist in ihrer Arbeit sehr frei.  Der Leiter des Projektes ist sehr froh, sie zu haben, denn ansonsten arbeitet nur noch eine weitere Psychologin, jedoch nur unregelmäßig, dort. „Hier legt man, anders als in Deutschland, sehr schnell den Anspruch ab, dass alles perfekt sein muss.“ Und so hat sie eine Aktivität für die Gruppentherapie eben einmal schnell in zehn Minuten vorher geplant. Neben den Gruppentherapien liegt ihre Hauptaufgabe darin, Einzelgespräche mit den Haftinsassen zu führen. Ganz eigenständig führt sie die Aufnahmegespräche durch und je nach persönlichem Anliegen folgen weitere Einzelgespräche mit den Personen.

Teresas Eindrücke vom Volunteering in Leòn

Verantwortung & Eigenengagement

Entgegen all ihrer Sorgen, nicht ernst genommen zu werden, war Teresa überrascht, gleich am Anfang so viel Verantwortung übertragen zu bekommen. Ihre Arbeit macht ihr wirklich Spaß. Sie fühlt sich frei, kann selbständig arbeiten und eigene Projekte entwickeln und durchführen. Etwas schockierend war für sie, als sie herausfand, dass es sich nicht um Ex-Häftlinge handelte, wie sie anfänglich dachte. „Da ich die Menschen vorher nicht kenne, bin ich vorsichtig. Es ist aber noch nie etwas passiert.“ Neben ihr und den Leitern der Gruppenaktivitäten sind auch immer Polizeibeamte im Projekt, falls eben doch einmal etwas passiert.

Ihre Meinung ist gefragt

Es gibt im Projekt sehr viel zu tun und sie kann mehr mitarbeiten als gedacht. Darin geht sie aber voll auf, weil das Projekt ihr sehr am Herzen liegt. „Ich werde nach Ideen und Einschätzungen gefragt und bin noch viel tiefer integriert, als ich anfangs gedacht hätte.“ Anfangs hätte sie erwartet, dass mehr Struktur und Anleitung da ist. Es gab jedoch keinen Tätigkeitsplan und sie hatte in ihrer Arbeit gleich freie Hand. Durch ihre bisherigen Erfahrungen war das für sie aber okay und eine positive Herausforderung. Die Menschen sind einfach froh, dass jemand da ist und sich für das Projekt engagiert.

„Das Highlight ist ganz einfach die Dankbarkeit
der Leute, die mir entgegengebracht wird.“

Sie hat mit ihren Therapieeinheiten eine Tätigkeit gefunden, die ihr wirklich Spaß macht. Dass sie vorher ein Jahr in Argentinien war und daher bereits fließend Spanisch spricht, hilft ungemein und gibt ihr noch viel mehr Möglichkeiten. Und man könnte hier noch so viel mehr tun. In gemeinsamen Gesprächen mit dem Leiter des Projektes werden immer wieder neue Ideen  diskutiert und auf die Beine gestellt. „Ich muss aber hin und wieder schauen, dass ich mir auch mal eine Auszeit nehme.“ Und dann genießt sie es einfach, sich hin und wieder als Tourist rauszuziehen und am Wochenende wegzufahren um Nicaragua zu erkunden.

Noch viel Potential

Und was hält Teresa von der mittelamerikanischen Arbeitsmoral? Die eckt dann schon immer mal mit der Deutschen aneinander. Das Projekt hat so viel Potential und es entstehen immer wieder ganz viele neue Ideen. Problematisch wird es aber dann in der Umsetzung. Ideen werden öfters dann doch nicht umgesetzt. Theresa ist eher jemand der einen Plan fasst und ihn dann auch wirklich bis zum Ende durchziehen möchte. „Wenn ich etwas mache, dann will ich es richtig machen.“

 

Im Fokus steht immer die Integration

Auch dem Leiter liegt die Arbeit mit den Haftinsassen sehr am Herzen. Teresa mag die Zusammenarbeit mit ihm, da so viel Energie und Motivation dahinter stecken. Da gemeinnützige Projekte immer wieder in der Kritik stehen, ist ein großes Anliegen von ihm die Evaluation und das Festhalten von Fortschritten. Teresa soll ihm dabei helfen, eine geeignete Messmethode zu entwickeln, um den Fortschritt in beispielsweise den Beratungsgesprächen festzuhalten. Das soll dann der Darstellung dienen für alle kritischen Stimmen.

Alles in allem erscheint  El Chante – La Casona als ein gelungenes Projekt, das noch viel Potential besitzt. Es wird auf bestimmte Ziele hingearbeitet und man verfolgt gewisse Pläne. Und im Fokus dabei steht immer die Integration der Haftinsassen. Sie machen einen sehr friedlichen, ja sogar glücklichen Eindruck, sodass man sie sich kaum im Gefängnis vorstellen kann. Ein Projekt, das den Haftinsassen eine vernünftige Beschäftigung und wieder einen Sinn im Leben gibt.

Tipps für zukünftige Freiwillige…

Teresa geht in ihrer Arbeit hier voll auf und kann das Projekt für andere nur wärmstens empfehlen. Da sie bereits viele Erfahrungen in diesem Arbeitsfeld mitbrachte, konnte sie ganz eigenständig Projekte aufziehen und Tätigkeiten durchführen. Für jüngere Freiwillige, die vielleicht erst einmal in diesen Bereich hinein schnuppern wollen, könnte es aber schwieriger werden. Da es keine durchgängige Anleitung für Freiwillige gibt, ist vor allem viel Eigeninitiative gefragt. Wenn man die richtige Motivation mitbringt, darf man auch vieles machen. Man muss es nur selbst in die Hand nehmen. Teresas Tipp ist, dass man sich schon vor dem Aufenthalt ein wenig inhaltlich darauf vorbereitet und bereits eigene Ideen für den Freiwilligeneinsatz mitbringt. Vor allem sollte man dann aber auch offen sein für Veränderung und den Dingen einfach seinen Lauf lassen. Denn wie oft läuft dann in Nicaragua eben doch nicht alles nach Plan.

…und ein kritischer Blick aufs Volunteering

Dem Thema Freiwilligenarbeit weltweit steht sie dennoch kritisch gegenüber. Hier in der Stadt León gibt es sehr viele Freiwillige, die in unterschiedlichen Projekten mithelfen. Sie selbst kommt aber nicht mit dem Anspruch, die Welt zu verbessern und ist sich bewusst, dass ihre zwei Monate hier keine ganzheitlichen therapeutischen Effekte erzielen. Vielmehr sollte man einen solchen Aufenthalt als eine Chance sehe, die Dinge aus einem anderen Blickwinkel betrachten zu können. „Ich profitiere eher selbst von der Zeit hier, weil ich sehr viel dazu lerne. Und für das bin ich dankbar.“ Wenn sie nun in ein paar Tagen das Projekt verlässt, bleibt doch immer ein Teil ihres Herzens hier in Nicaragua. Und schon jetzt ist sie sicher, dass sie gerne ganz bald zurückkehren möchte für eine längerfristige Tätigkeit im Projekt El Chante – La Casona.

Theresa ist inzwischen mit Hilfe einer Crowdfunding-Kampagne in das Projekt zurückgekehrt . Sie bleibt bis Ende des Jahres in Nicaragua und entwickelt ein therapeutisches Programm, mit dessen Hilfe auch auf lange Sicht professionelle Arbeit mit den Häftlingen stattfinden kann.

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